Text zur Podcast-Folge 64, verfasst von Cleo Libro.
Trigger-Warnung: Erwähnung von Essstörung und dick_fettfeindlicher Diskriminierung
Für die sexOlogisch Podcastfolge #64 hat Magdalena sich Sara Ablinger von „Big Body Love“ eingeladen. Sara ist Fat Acceptance-, Behinderten- und Queeraktivistin mit großer Leidenschaft für die Themen Sexualität, radikale Körper- und Selbstliebe und auch aus eigener Lebenserfahrung Expertin auf dem Gebiet „Bodypositivity“. Außerdem betreibt Sara sinnliche und erotische Körperarbeit für und mit Frauen und queere Personen und gibt darüber hinaus Workshops zu Konsens, Sexualität und Selbstliebe.
Sara beschreibt ihre Angebote als Tantra- und Kink-Workshops für Schüchterne und Menschen, die sich auch während der Körperarbeit lieber nicht ausziehen möchten. Ihr Ziel ist es, einen leichten Einstieg in die „verschiedenen Flavours of Sex“ und das Navigieren durch diese Gebiete mithilfe von offener Kommunikation zu schaffen. Ihre Message ist dabei: Das eigene Leben authentisch gestalten – vor allem und gerade in einem dicken_fetten Körper.
Was Selbstliebe für Sara bedeutet
„Radikale Selbstliebe“ ist ein starkes Statement, das für Sara seine Wurzeln in ihrem Outing und dem Queeraktivismus hat. Sie möchte sich für sich selbst, ihren Körper und ihre Sexualität nicht mehr entschuldigen, sondern sucht nach einer Selbstverständlichkeit, mit der sie sich selbst annehmen können möchte. Auch wenn die Radikalität in der Durchsetzung dieser Selbstwertschätzung und Akzeptanz nicht immer leicht fällt.
Etwas, das Sara schon sehr lange auf ihrem Weg zur Eigenliebe unterstützt hat, ist ihre positive Einstellung zu ihrer eigenen Sexualität. Als Kind hatte sie die Freiheit, ihre Solosexualität früh und ungestört entdecken und entwickeln zu können. Ihre Eltern halfen ihr dabei, indem sie ein offenes Umfeld schufen, wo es möglich war, alle Fragen schambefreit zu stellen. Bis heute bildet ihr entspannter Umgang mit Sex und Lust eine enorme Kraftquelle für Sara, aus der sie Resilienz und Rekreation schöpfen kann.
Doch Saras Kindheit verlief nicht nur wertfrei und geborgen. Sie musste schon früh Erfahrungen mit Bodyshaming, das heißt, Kommentaren zu ihrem großen Körper machen. Ein Körper, der schon als Kind sehr sportlich und gelenkig war und dabei nicht drahtig, sondern kräftig. Dieser Umstand verleitete Menschen in ihrem Umfeld dazu, ihr bereits im Alter von 11 Jahren Sorgen um ihr Gewicht und ihre Erscheinung einzureden. Aus diesem Grund begann Sara ihre erste Diät schon mit 13, was nicht folgenlos blieb. Heute berichtet sie bedauernd davon, dass sie in ihrem Leben fast jegliche Form der Essstörung bereits einmal durchlebt habe.
Eins ihrer Lebensthemen ist daher die Aufarbeitung von Essstörungsdynamiken bei ihr selbst. Weil das eine schwierige Aufgabe ist, deren Bewältigung nicht ohne Rückschläge auskommt, versteht Sara das Konzept „Selbstliebe“ nicht als ein „Ich muss mich jeden Tag lieben“-Mantra, sondern als eine Milde sich selbst gegenüber. So entwickelte sie langsam ein geduldigeres Verständnis für den eigenen Prozess der Aufarbeitung.
Verinnerlichte und strukturelle Fettfeindlichkeit
Doch auch bereits ohne eine Essstörung zu entwickeln, kann das Verhalten dem eigenen Körper gegenüber ungesund werden. Ein Beispiel, das die meisten kennen, ist die gedankliche Selbstansprache, die oft so viel kritischer und gemeiner ist, als wir je mit anderen Menschen über deren Aussehen sprechen würden. Unsere „inneren Saboteure“ kritteln und beleidigen uns, wenn wir in den Spiegel sehen und unseren Körper betrachten. Es gilt, sie nicht einfach zu verdrängen, sondern sie wahrzunehmen und ihnen eine „innere beste Freundin“ entgegensetzen, die uns mit Verständnis, Komplimenten und lieben Worten unterstützt.
Mit wohlwollenden Worten ist es aber häufig noch längst nicht getan. Kritik an der Bodypositivity-Bewegung wird unter anderem wegen ihrer aktuellen Konsumausrichtung laut: „Kauf dir halt mal was Schönes für die Me-Time, dann liebst du dich bald selbst“, verspricht die Werbung. Dabei ist ein großer Teil des Problems die strukturelle Diskriminierung mehrgewichtiger Personen und die Vermarktung von Produkten unter dem Label „Bodypositivity“, die ohne diese Diskriminierung keinen Absatz finden würden. Trotzdem ist auch die individuelle Einstellung, also der Selbstdialog eine wichtige Dynamik, die ernst genommen werden muss. Die meisten von uns haben die strukturelle Fettfeindlichkeit tief verinnerlicht und führen nur deshalb diesen Kampf gegen den eigenen Körper.
Aber ab einem bestimmten Mehrgewicht ist die Diskriminierung allgegenwärtig: Sie findet nicht mehr nur im eigenen Kopf statt, sondern auch auf der Straße, am Arbeitsplatz, im Modegeschäft oder in der Arztpraxis. Besonders letzterer ist ein ganz prekärer Ort, denn die eigene medizinische Versorgung aus Furcht vor Diskriminierungserfahrungen zu vernachlässigen, kann im Ernstfall lebensbedrohlich sein. Medizinisches Personal, das nicht für Fettfeindlichkeit sensibilisiert ist, verwehrt Betroffenen oft die notwendige ärztliche Hilfe über den Rat zur Gewichtsabnahme hinaus. Das kann zu schlimmen Fehldiagnosen führen.
Fettfeindlichkeit und Gesundheit
Sara empfiehlt vor allem im Bereich der gesundheitlichen Versorgung für sich einzustehen und im Vorhinein direkt anzusprechen, wenn das Gewicht nicht zum übergeordneten Thema gemacht werden soll. Darüber hinaus rät sie, sich Situationen zu entziehen, die diskriminierend sind: „Durchbrich die Scham und kommuniziere deine Grenzen. Wenn diese dann immer noch verletzt werden sollten, ist es völlig legitim die Situation zu verlassen.“
Es gilt auch außerhalb eines sexuellen Kontexts den Konsens und somit die Grenzen eines jeden Menschen zu achten. In Bezug auf eine medizinische Untersuchung ist das häufig auch eine Privilegienfrage, weiß Sara. Dennoch empfiehlt sie, auf Untersuchungen zu bestehen und sich medizinisches Personal zu suchen, das diskriminierungsfrei behandelt – auch wenn das leider viel zu oft eine Frage des Geldes sei.
Die Fat Acceptance-Bewegung kämpft nicht in erster Linie für ein Wohlgefühl im eigenen Körper, sondern um soziale Teilhabe, Respekt und im gesundheitlichen Sinne um das reine Überleben. Dem steht immer noch ein großer Mythos gegenüber: Der vermeintliche Rückschluss vom Körpergewicht auf den Gesundheitszustand einer Person. Nein, tatsächlich kann man nicht vom Aussehen eines Menschen sicher darauf schließen, ob er*sie gesund oder ungesund lebt. Trotzdem wird meistens so gehandelt, als bedeutete dick_fett zu sein einen ungesunden Lebenswandel und als hieße ein schlanker Körper, dass die Person gesund sei.
Das beste Gegenbeispiel hierzu liefert Magdalena mit ihrer Erfahrung aus ihrer eigenen Essstörung. Die meisten Komplimente zu ihrem Aussehen und ihrer vermeintlich guten Gesundheit bekam sie nämlich, als sie nur von einem Zwieback am Tag lebte und somit tief in einer essgestörten Dynamik steckte. Schlankheit und Gewichtsverlust sind also kein eindeutiger Hinweis auf körperliche oder geistige Gesundheit!
Am besten halten wir uns also zurück mit ungefragten Kommentaren und Meinungen zur Körperform anderer Leute. Selbst eine Person mit einem Körper, der dick_fett und tatsächlich ungesund ist, verdient Respekt und in keinem Fall abfällige Bewertungen. Letztlich sind diese nämlich Auslöser #1 für Rückfälle in essgestörtes Verhalten, Stress und somit psychische Ungesundheit. Aber dass es den Kommentierenden wirklich um die Gesundheit des angefeindeten Gegenübers gehen soll, erscheint sowieso mehr als zweifelhaft.
Tipps für ein gesteigertes Körpergefühl
Lustvolle und zwanglos gelebte Sexualität vermittelt, dass mit dem eigenen Körper alles okay ist, welche Form auch immer er hat. Diesen Glaubenssatz vertritt Sara und sie zieht Kraft aus ihrer Lust. Ihrer Erfahrung nach, ist das lustvolle Spüren und in Kontakt treten zum eigenen Körper das beste Mittel gegen Scham und Körperhass.
Außerdem ihr Top-Tipp: Verzichte eine Zeit lang auf einen Spiegel (eine Woche, einen Monat, solange du willst), der deinen ganzen Körper zeigt. Dadurch trug Sara irgendwann nur noch Kleidung, die ihre Stimmung ausdrückte und in der sie sich wohl fühlte. Optische Aspekte oder Dress-Codes bestimmten ihre Kleiderwahl nicht mehr. Das Ziel war es, sich nicht mehr selbst niederzumachen für das, was man im Spiegel sieht, obwohl man sich eigentlich gut fühlt. Die große Diskrepanz zwischen optischer und gefühlter Eigenwahrnehmung begegnet auch vielen Menschen, die nicht mehrgewichtig sind. Auch sie können von der Spiegel-Fastenkur profitieren.
Ein Weiterer Tipp, der sich an hochgewichtige Personen richtet: Nimm dir 5 Minuten täglich Zeit für deinen Körper und creme beispielsweise deine Haut ein. Nimm dabei bewusst war, wie du dich anfühlst, während du dir eine nährende und wertschätzende Berührung gönnst. Zärtliche und sinnliche Berührungen dieser Art können anfänglich unangenehm sein und Scham auslösen. Aber nach und nach ersetzt die innere Wahrnehmung den kritisch-bösen Blick auf den eigenen Körper. Denn dieses Spüren übersetze sich ins Wahrnehmen und Erkennen körperlicher Bedürfnisse, die viele dicke_fette Menschen aus Scham und Schuldgefühl schon viel zu lange unterdrückten.
Apropos, Weihnachten!
Bei vielen Menschen stehen in den nächsten Wochen die Weihnachtsfeiertage mitsamt Familienbesuchen und Konfrontation mit Essen und Nascherei in großen Mengen an. Bitte behalte im Hinterkopf, dass Nahrung weder gut noch schlecht noch dein Feind ist. Der Körper braucht Nahrung und verdient sie, völlig unabhängig davon, ob du aktiv warst oder nicht. Erinnere dich daran, dass du dich Situationen jederzeit entziehen darfst, in denen dir diskriminierendes Verhalten in Bezug auf deinen Körper begegnet – auch wenn es von der eigenen Familie kommt!
Sara und Magdalena empfehlen, milde und liebevoll auf sich selbst zu schauen und sich eine großzügige Fehlertoleranz im eigenen Selbstliebe-Prozess einzuräumen. Denn dein Körper ist ein Wunderwerk. Dein Körper ist ein guter Körper!
Über Cleo Libro
Im Frühling 2018 kam Cleo zur Welt, als ich mir diesen Namen gab, um zum ersten Mal in einem Podcast über meine offene Beziehung zu sprechen. Mit den Jahren gesellten sich weitere Themen zu meinem regelmäßigen Tabu-Kaffeeklatsch: Weibliche Sexualität, Dating, Masturbation, Konsens und weiteres aus dem Bereich „Lust und Frust einer promisken Frau.“
Seit Januar 2021 existiert mein Blog Cleographie, wo ich meine in Schrift gefassten Gedanken und Erfahrungen zu Non-Monogamy, Zwischenmenschlichkeit und Feminismen veröffentliche. Eine Bauchidee, die stetig zu einem Herzprojekt heranwuchs, weil sie meine Begeisterung für Sprache, Schriftmedien und Sexualität vereint.
Kommunizieren komplettiert mich. Neues lernen fasziniert mich. Schreiben ist mein Versuch etwas von dieser Energie weiterzugeben.
Insta: @cleo.libro
Beschreibe dich in 3 Worten: mitteilsam, mitfühlend, mitreißend
Worin bist du besonders gut: Genießen und mich für etwas begeistern
Was sind deine absoluten Herzensthemen: Alternative Beziehungskonzepte, Kommunikation, Selbstbestimmung und generell alles Zwischenmenschliche oder Sexuelle, das tabuisiert wird.
Welche Kondomsorte wärst du und warum?
Ich wäre ein Kondom von Releaf, weil es super nice riecht/schmeckt, angenehme Haptik und Feuchtigkeit hat und für meine Anwendung ein neuer Baum gepflanzt würde. Außerdem hätte mein Hersteller dann einen guten Humor: Ich sag nur, „Forst pflanzen anstatt fortpflanzen“, hihi.
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