Ein Text von Ursula Wilms-Hoffmann (lebelieber.org)
...Seit drei Jahren haben wir kaum bis keinen Sex mehr.
Ich habe bei der Arbeit jemanden kennengelernt, „der mir nicht mehr aus dem Kopf geht“. Ich fühle eine starke Anziehung, auf körperlicher und geistiger Ebene, obwohl wir uns doch kaum kennen. „Ich möchte ihn verführen und mich verführen lassen. Hemmungslosen Sex haben, voller Lust, Genuss und Freude.“ Es ist nur eine heimliche Idee.
Bedürfnisse sind von Mensch zu Mensch unterschiedlich und auch Divergenzen bezüglich des sexuellen Verlangens gehören zu Beziehungen. Bei einigen Paaren* ist das sexuelle Verlangen beider Partner*innen unterschiedlich intensiv ausgeprägt und das kann die Liebe und Bindungsfähigkeit auf Dauer beeinträchtigen. Die Frage lautet daher: Wie können Paare* konstruktiv damit umgehen?
Liebe kann chaotisch sein - Untreue erst recht
In unseren früheren Generationen war das Fremdgehen oft eine Kompensation, weil Liebe und Leidenschaft in der Beziehung gar nicht vorgesehen waren. Wir gehen fremd, weil unsere Partnerschaft uns die Liebe, die Leidenschaft und die ungeteilte Aufmerksamkeit nicht bietet, die wir uns einstmals von ihr versprachen. Damit wird das zentrale Problem greifbarer. Manchmal erwarten wir von einem einzigen Menschen, dass er uns gibt, wofür ehemals ein ganzes Dorf zuständig war und wir leben doppelt so lang wie damals. Das ist ein ziemlicher Brocken, wenn man ihn zu zweit stemmen will.
Wenn es für beide oder mehrere Menschen stimmig ist, steht weder einer polyamoren noch einer offenen Beziehung etwas im Wege. Immer unter der Voraussetzung des Konsens, Vertrauens und der Transparenz und natürlich der Regeln, die die jeweils beteiligten Personen vereinbaren.
Oft ist im Laufe der ersten Jahre noch alles stimmig, dann verändert sich die sexuelle Lust zusehends. Dies variiert von Paar* zu Paar* und von Person zu Person. Die Diskrepanz in Sachen gemeinsamer Sexualität nimmt mit der Zeit zu.
Mangelnde Lust
Laut einer Studie von pro familia in Deutschland berichten etwa 30 Prozent der Frauen* im Alter zwischen 18 und 59 Jahren über mangelndes Interesse am Sex. ("Appetenz- oder Libidomangel") Bei den Männern* sind es 14 bis 17 Prozent zwischen 18 und 59 Jahren.
Die vielfältigen Gründe für die unterschiedliche Lust auf Sex
Die Ursachen sind vielschichtig. Es kann mit der Zufriedenheit mit dem eigenen Körper beginnen und mit den bisherigen Erfahrungen und kindlichen Prägungen zusammenhängen, von gesellschaftlichen Rollenzuschreibungen bis hin zu Hormonschwankungen, Scham, Lebensphasen und beruflichem oder privatem Stress.
Eine ziemliche Bandbreite und irgendwie auch gut nachzuvollziehen: Wer sich beispielsweise gerade auf einen Jobwechsel fokussiert oder den Trubel des Alltags zu verdauen hat, dem*der steht logischerweise nicht unbedingt der Sinn nach leidenschaftlichem
Paar*sex.
Natürlich kann der generelle Zustand der Paar*beziehung selbst auch ein maßgeblicher Faktor für das sexuelle Verlangen darstellen, in manchen Fällen kann auch eine Person der Partnerschaft Libidomangel oder Asexualität aufweisen.
Dazu gehört die Intimität zwischen beiden Partner*innen. Also, wie emotional nah sie sich wirklich sind – oder leben sie eher nebeneinander her und funktionieren gut im Alltag? Manchmal, im Besonderen bei Paaren* mit Kindern, fehlen einfach Zeitfenster und Energie, sich sexuell aufeinander einzulassen.
Immer währende Leidenschaft ...ein Mythos?
Begehren und Sinnlichkeit – Toleriere Vergänglichkeit.
2-3 Mal pro Woche Sex braucht es schon in einer funktionierenden und glücklichen Beziehung, oder? Mythen wie diese werden massenhaft verbreitet. Entweder durch den Freundeskreis aufgestellt oder einfach von Generation zu Generation weitergegeben. Soll das bedeuten, dass Paare* mit quantitativ weniger Sex auch weniger glücklich sind?
Ihre Beziehung ist dadurch automatisch weniger wert als die von Paaren*, die die Gleichung mit den beiden Werten - Frequenz der Sexualität = Intensität der Liebe erfüllen. Diese Gleichung entspricht definitiv nicht der Lebensrealität von Paaren* und kann somit getrost ignoriert werden.
Was ist für das Paar* eine glückliche Beziehung?
Welche Wertevorstellungen nahm ich mit in die Beziehung?
Und wie steht es mit meinen Werten heute?
Ist meine Beziehung ein Status?
Will ich nicht alleine sein?
Will ich jemandem etwas beweisen?
Hier zu reflektieren kann manchmal spannend und hilfreich sein.
Sexualität kennt keine Normen und benötigt Gestaltungsfreiheit
Sexuelle Lustlosigkeit wird gerne pathologisiert. Kaum oder keine Lust auf Sexualität wahrzunehmen, unabhängig von einer bestehenden Partnerschaft, gilt als nicht normal. Ein kompletter Wirtschaftszweig konzentriert sich darauf, Menschen zu helfen, denen gar nicht geholfen werden muss. Die Sinnhaftigkeit von Behandlung, die Verschreibung von Medikamenten zur Lust- und Potenzsteigerung, das Muss ein Sextoy zu verwenden, um endlich wieder etwas zu spüren, kann durc
haus infrage gestellt werden. Der Sexualtherapeut Ulrich Clement betrachtet Lust und Lustlosigkeit als gleichwertige Größen innerhalb der Beziehung. Jeder Punkt auf der Linie zwischen diesen beiden Polen gilt dabei als normal. Es ist okay, jeden Tag Lust auf Sex zu haben. Genauso ist es richtig, überhaupt kein Lustempfinden mehr zu verspüren. Glückliche Langzeitpaare* akzeptieren die Differenz des Wollens ebenso wie die Differenzen, die sich in Bezug auf die sexuellen Praktiken und Neigungen ergeben können. Clement spricht es Außenstehenden ab, eine Störung diagnostizieren zu können. Das können nur die Paare* selbst, wenn sie mit ihren eigenen Wünschen einfach nicht zusammenfinden.
Generell gesagt braucht Erotik eine kleine Hürde. Einen Ansporn. Der amerikanische Sexualtherapeut Jack Morin hat dafür die erotische Gleichung aufgestellt: Erregung = Anziehung + Hindernis. Die Anziehung allein ist nicht genug. Man muss etwas haben, das es zu überwinden gilt, erst das macht den Reiz aus.
Eine kunstvolle Verführung benötigt noch ein paar zusätzliche Ingredienzien.
Abgesehen davon, dass es immer darauf ankommt, wer wen verführen will, müssen die Gegebenheiten auf jeden Fall noch in der Schwebe sein.
Nichts ist eindeutig. Die Verführungssituation endet genau in dem Moment, in dem die Lage nicht mehr offen, sondern eindeutig spürbar ist.
Liebe, ohne Zwang zum Sex
Wenn die Beziehung gefestigt ist, eine Souveränität entstanden ist, lässt man sich von Fremdbildern, die oft von außen angetriggert werden, wie überaus wichtig Sex in der Partnerschaft ist, möglichst nicht beeinflussen. Leicht ist es dennoch nicht, sich komplett vom Außen frei zu machen. Man öffnet dadurch aber die Türen für Gestaltungsfreiheit. Die Liebesbeziehung für sich als Paar* gemeinsam gänzlich neu zu entwickeln und zu gestalten und allen dafür nötigen Grundlagen ihren eigenen Stellenwert zu geben, wie Gesprächen, Zeit zu zweit, Zuhören, Vertrautheit, einer neuen Basis, die man gemeinsam aufbaut.
Reden und Nähe
Zweifellos ist Sex nicht der einzige Modus, um Intimität zu erzeugen. Es gibt auch Sex in Beziehungen, bei dem überraschend wenig Nähe entsteht. Wenn jedoch in einer Beziehung die emotionale Nähe stagniert, ist es ein guter Ansatz, diese wieder herzustellen, der Schlüssel dazu: Qualität statt Quantität. Routinen durchbrechen, Kommunikation, wieder eine Verbindung zueinander herstellen, Interessen erneut abgleichen, Scham ablegen und auch seine sexuellen Vorlieben mit dem/der Partner*in teilen.
Offen, konstruktiv und wertschätzend miteinander kommunizieren, einander ernst nehmen und zuhören.
Gemeinsam kann ein Paar* herausfinden, worin genau das Verlangen besteht und Gemeinsamkeiten finden. Oder auch die Neugierde teilen. Oft geht es gar nicht so sehr um die Frequenz, sondern um die Vielfältigkeit und Qualität von Sex.
Um die Lust wieder anzukurbeln, kann es hilfreich sein, Sex und Intimität bewusst Raum und Zeit einzuräumen und zu planen – auch, wenn das furchtbar unspontan klingen mag. Ansonsten kann es leicht passieren, dass der volle Alltag alles wieder ins Wanken bringt. Hier sollte, wenn möglich kein Druck entstehen. Nähe und alles, was sich daraus in beidseitigem Einvernehmen ergibt: ja, fein, toll – Sex auf Kommando: auf keinen Fall.
Besonders wichtig dabei: zeigen, dass eine generelle Lust auf Nähe existiert und eine momentane Absage auf eine intime Einladung, kein Ausdruck von grundlegender Unlust ist. Unterschiedlich ausgeprägte Lust auf Sex ist normal. So lange beide ebenso rücksichts- wie liebevoll über ihre Bedürfnisse und ihr Verlangen sprechen und gemeinsam Lösungen suchen, die einen Konsens herstellen, kann man auch ruhig mal einfach eine gemütlich sexfreie Zeit genießen.
Geiler Sex ist mehr als Orgasmen
Beim Sex geht es selbstverständlich bei Weitem nicht nur um den Orgasmus. Besonders für Frauen* ist es oftmals nicht ganz einfach, frei von Scham oder über medial angetriggerte Performanceerwartungen über ihre* Lust und Bedürfnisse zu sprechen. Ihre* Sexualität so zu genießen, dass es ihnen* wirklich Spaß und Freude macht, Genuss bereitet und sie* sich vollkommen fallen lassen können.
Es ist auch hier sehr wichtig, klar zu formulieren, was man mag und was NICHT!
Weibliche* Lust und Sexualität werden in unserer Gesellschaft leider immer noch hauptsächlich heteronormativ und im Bezug zum Mann* und seiner* Befriedigung angedacht. Frauen* können zwar begehrenswerte Sexobjekte sein, begehrende Sexsubjekte jedoch nicht unbedingt. Es wird also als erstrebenswert und wichtig erachtet, gut im Bett zu sein – sich dabei selbst gut zu fühlen ist aber höchstens zweitrangig.
Damit versucht die sexpositive Bewegung seit fast einem halben Jahrhundert aufzuräumen. Es geht darum, gemeinsam Spielarten zu definieren und erfüllenden Sex zu erleben – KONSENS. Das klappt allerdings nur mit ehrlicher, wertschätzender und freier Kommunikation. Das kann dann für alle Beteiligten bereichernd sein.
Menschen,* die sexuell zufrieden sind, gehen auch gelassener damit um, über ihre* Sexualität und Sehnsüchte zu sprechen.
Sich in der eigenen Haut gut zu fühlen und zu spüren, zu wissen, was sich gut anfühlt, erregend ist und Spaß macht und was nicht und das dann auch noch in aller Deutlichkeit und Klarheit sagen zu können, lässt sich wunderbar erlernen. Gerade in einem sexualpädagogischen Beratungsgespräch und einer Paarberatung liegt der Fokus auf der sexuellen Gesundheit und dem sexuellen Lernen
Mag.a Ursula Wilms-Hoffmann
Sexualpädagogin, Sexualberaterin, psychologische Beraterin, Coach, Sozialarbeiterin, Yogalehrerin und Mutter
Ursula arbeitet als Sozialarbeiterin und Sozialpädagogin im Bereich der offenen Jugendarbeit in Wien. Ihr ist es als Feministin sehr wichtig, unabhängig und gleichberechtigt zu sein und dies auch in ihre Arbeit mit einfließen zu lassen. Sie hat einige zusätzliche Ausbildungen absolviert, unter anderem zur Yogalehrerin, Coach und zur Sexualpädagogin.
Seit einiger Zeit ist sie neben ihrer Anstellung zusätzlich als Sexualberaterin, Sexualpädagogin, psychologische Beraterin und Coach, selbstständig tätig. Wenn du mehr über Ursula erfahren möchtest, oder sie kontaktieren magst, schau gern auf ihre Website www.lebelieber.org oder auf Facebook LebeLieber und Instagram @lebelieber.org
Mail: hallolebelieber@gmail.com
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